Das Jahr ist jetzt gut eine Woche jung und ich habe mir für 2016 vorgenommen, mit Gesprächen zur Kunstvermittlung eine neue Reihe zu etablieren, die mein Herzensthema von verschiedenen Seiten beleuchten soll. Es fügt sich wunderbar, dass ich für die Premiere eine Kollegin gewinnen konnte, die sich schon lange intensiv mit der Vermittlung des Werkes von Joseph Beuys beschäftigt – ich schrieb schon mal, wie wichtig mir dieses Thema ist. Nina Schulze arbeitet im Museum Schloss Moyland und ist Dozentin für besucherorientierte Kunstvermittlung am Berlin Career College der Universität der Künste Berlin. Sie hat Kunstgeschichte studiert in Köln, Bologna und Aix-en-Provence. Wir haben über die besonderen Herausforderungen der Vermittlungsarbeit bei Beuys gesprochen. Dann war da auch noch die Frage, was er wohl von den sozialen Netzwerken gehalten hätte.
Anke
Liebe Nina, wir haben ja schon ein paar Mal zusammengesessen und uns über die Kunstvermittlung ausgetauscht. Ich freue mich sehr über unsere aktuelle Zusammenarbeit bei der Aktion #beuysheute (in dem Zusammenhang entstand auch dieser Blogbeitrag), die uns ermöglicht, das noch einmal etwas ausführlicher zu tun.
Kunstvermittlung, wie ich sie verstehe, hat sehr viel mit einer bestimmten Haltung zu tun, die ich gerne jenseits eines formalästhetisch begründeten Kunstverständnisses ansiedeln möchte. Für mich geht es immer auch um einen Austausch und um die Ermutigung zu einer eigenen Meinung zur Kunst. Wie siehst du das?
Nina
Ähnlich, denke ich. Ich gehe immer davon aus, dass jeder Mensch alles hat und alles kann, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Also geht es mir darum, diesen Prozess in Gang zu setzen und dem Besucher zu zeigen, wie er sich auch ohne Vorwissen dem Kunstwerk nähern kann. Darin erfüllt sich für mich das Versprechen der Kunst: sich mit dem Angebot, das ein Kunstwerk darstellt, zu beschäftigen und vielleicht zu einer eigenen Meinung zu kommen. Besonders interessant ist es dann, die eigene Meinung am Kunstwerk begründen zu können und in einen Dialog zu kommen.
Persönlich mag ich die „edukativen“ Anteile der Vermittlung, also die Erzählung von Entstehungsgeschichte, kunsthistorischem Zusammenhang oder dem aktuellen Forschungsstand nicht so gerne wie die „dialogischen“. Denn erst im Austausch mit den Besuchern lerne auch ich wieder Neues und erlebe z.B. den Moment der ersten Begegnung mit dem Werk immer wieder anders. In dieser Lebendigkeit und Vielfalt geht für mich das Konzept „Kunst“ auf.
Anke
Es gibt da diesen berühmten Satz von Beuys. „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Der ist ja so, wie er landauf landab zitiert wird, nur stark verkürzt wiedergegeben. Inwiefern beeinflusst dieser Satz deine Arbeit als Kunstvermittlerin? Wie ist dein Verhältnis zu bildnerisch-praktischer Arbeit?
Nina
Dieser Satz beeinflusst meine Arbeit stark, da ich mit einem großen Beuys-Bestand arbeite. Allerdings eher, indem ich erläutere, was Beuys eigentlich damit gemeint hat, nämlich, dass wir alle Schöpfer sind und unsere Fähigkeiten lebenslang zu einem Optimum, einer immer höheren Qualität entwickeln sollen, und dass wir so letztlich der Gesellschaft dienen. Hier kommen wir zu einem sehr interessanten Punkt meiner Arbeit: Vieles, das Beuys gesagt und gedacht hat, ist gleichermaßen Kunstwerk wie seine physischen Arbeiten, die wir ausstellen, die man auch sehen kann.
Bezogen auf unsere Workshops zu Beuys wirst du daher wenig konkrete bildnerisch-praktische Angebote finden. Grundsätzlich halte ich zwar viel von Anleitung und Einübung künstlerischer Techniken, wie wir sie für viele Ausstellungen anbieten, aber bei Beuys bin ich skeptisch. Daraus ist vor einem Jahr die Idee erwachsen, Besucher auf eine Entdeckungstour zu schicken und sie mit Fragen und Denkanstößen zu ausgewählten Beuys-Werken zu versorgen. Ausgearbeitet haben wir diese Rallye dann mit einer unserer Partnerschulen, der Joseph-Beuys-Gesamtschule in Düsseldorf, deren Schüler Du auch in unserem Video sehen kannst. Du siehst: Derzeit kommen wir Herrn Beuys eher über Dialog, Austausch, genaue Werkbetrachtung und Vermittlung seiner Begriffe nahe.
Anke
Wir – also die gesamte KollegInnenschaft – eiern ja seit vielen Jahren schon um den Begriff „Museumspädagogik“ herum. Der passt ja so heute nicht mehr unbedingt zu den Aufgaben in einer Welt im Medienwandel. Sicher muss sich auch die Kunstvermittlung im Museum den neuen Seh- und Kommunikationsgewohnheiten anpassen. Mir fällt in diesem Zusammenhang dieses Zitat von Chris Dercon ein:
„Museums will become different – they will become community centres and art schools. You have to be radically different and to rethink the notion of the museum, not just in its physical substance but as a social organization (…)“
Wie seht ihr hier am Museum Schloss Moyland eure zukünftigen Aufgaben. Auch und in besonderer Weise im Hinblick auf die Vermittlung des Werkes von Joseph Beuys.
Nina
Ich habe das Gefühl, dass vieles, was Beuys gemacht und gesagt hat, direkt in die Gesellschaft hinein führt, paradoxer Weise aus dem Museum hinaus. Das bedeutet für mich zweierlei: Die Bemühungen, die Gesellschaft ins Museum zu holen, zu verstärken und dann natürlich die Erweiterung des Museums in die Gesellschaft, dabei vor allem in den digitalen Raum hinein, voranzutreiben. Ganz konkret glaube ich, dass man kein Prophet sein muss, um die von Dercon skizzierte Zukunft vorherzusehen und viele Museen sind ja auch schon auf einem guten Weg.
Schön, wenn wir von Beuys sprechen, ist, dass es viele außermuseale Projekte gibt, die sich auf Beuys berufen oder seine Idee der Sozialen Plastik weiterführen. Hier würde ich gerne anknüpfen und ein dichtes Netz an Initiativen ans Museum andocken, z.B. Keywork mit Menschen aus der Region machen, unser Angebot zum lebenslangen Lernen ausweiten, eine Werkstatt für Kinder unter freiem Himmel in unserem großen Skulpturenpark installieren und natürlich im Netz präsenter werden.
Ein Beuys-Wiki fehlt, eine öffentlich zugängliche, interaktive, gut vernetzten Timeline zum Leben von Beuys wäre ein tolles Hilfsmittel, sowie Moocs und Diskussionsforen zu Beuys. Allerdings sind wir auf viel Hilfe von außen angewiesen, da wir all dies personell nicht schaffen werden.
Anke
Die Idee der Sozialen Plastik ist ein Mindset, das mich persönlich sehr berührt. Das, was Beuys da entwickelt hat an theoretischem Hintergrund ist allerdings auch sehr komplex. Hast du für dich eine kurze Formel entwickelt, auf die du es runterbrechen könntest, was er mit der Sozialen Plastik meint?
Nina
Anfangen würde ich beim erweiterten Kunstbegriff. Der heißt ja eigentlich nichts weiter, als dass der Begriff Kunst im klassischen Sinne anachronistisch ist, wenn man, wie Beuys, der Auffassung ist, dass die Gesellschaft durch das schöpferische Potenzial des Einzelnen und seiner Freiheit zur Selbstentfaltung geformt werden sollte. Mit diesem sehr weiten Begriff von Kunst, der sehr unakademisch und nahe am Leben ist, ist die Gemeinschaft aller die Soziale Plastik. Er überträgt das Denken an Bildhauerei auf die Gesellschaft und sagt, dass jeder Einzelne mitgestaltet, wie wir leben. Er findet plastische Begrifflichkeiten für soziale Konstellationen und denkt Ideen weiter, die zuletzt von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, formuliert wurden. So einiges, was heute unter dem Schlagwort der solidarischen Gesellschaft, der öko-sozialen Wirtschaft oder der Graswurzelbewegung subsummiert wird, ist vom Konzept her sehr beuysisch.
Anke
Die Analogie zu den sozialen Netzwerken lässt beim Nachdenken über die Soziale Plastik nicht lange auf sich warten. Hier und da ist auch schon im Netz spekuliert worden, wie Joseph Beuys wohl zu Twitter, Facebook und Co. gestanden hätte.
Es gab bei euch eine Summerschool die sich mit internationalen Studienteilnehmern dieser Frage gestellt hat. Dabei sind auch ein paar spannende Experimente angestellt worden. (Überhaupt: Experiment ist das Zauberwort!)
Wenn ich mich mit Strategien für das Web 2.0 beschäftige, dann geht es für mich um die Frage, wie kann ich den Austausch zwischen den Menschen befeuern. Mit welchen Impulsen kann ich die Interaktion anzünden?
Beuys kannte ja nur die analoge Welt. Aber immer, wenn ich seinem Dosentelefon begegne, denke ich: das ist doch das Urbild einer vernetzten Kommunikation.
Fallen dir spontan Zitate oder Arbeiten von Beuys ein, die man mit den sozialen Netzwerken in Beziehung bringen könnte? Könnte man der Spekulation, wie Beuys mit dem Web 2.0 umgegangen wäre, ein bisschen Futter geben? Der Gedanke reizt doch zu sehr, oder?
Nina
Ja, diese Gedanken sind sehr spannend und naheliegend. Man kann zwar nur spekulieren, aber aus seiner Biografie kann man dazu ja Einiges ablesen: Beuys hat seit 1967 politisch agiert. Gegipfelt ist sein Engagement Ende der 1970er Jahre in der großen Politik. Er hat lange geglaubt, mit der jungen Partei „die Grünen“ die Öffentlichkeit zu finden, die er zur Verbreitung seiner Ideen benötigte. Er hat sie auch mitgegründet. Schon wenige Jahre später jedoch hat er sich enttäuscht abgewandt, weil er erkannte, dass die Bundespolitik auch die Ideale der ersten Grünen und seine eigenen kompromittierte. Hätte er damals über alternative Möglichkeiten zum Ansprechen einer großen Öffentlichkeit, wie z.B. das WWW verfügt, wäre er vielleicht nicht so enttäuscht worden.
Grundsätzlich hatte Beuys keinerlei Berührungsängste mit den Medien. Auch, dass die mediale Wirklichkeit nicht immer deckungsgleich mit seiner eigentlichen Intention war, hat er gelassen gesehen. Überhaupt war er ein großer Kommunikator. Mir fällt sofort das Multiple „Letter from London“ ein, in dem es um Austausch, um Kommunikation geht. Darin wird deutlich, dass er sich für Kommunikationstheorie interessiert hat. Er zitiert Shannon und Weaver mit ihrem Sender-Empfänger-Modell. Man findet es auch auf dieser wunderbaren Seite, die Du zitierst, die zudem ein hervorragendes Werkzeug für unsere Arbeit und ein brillanter Anfang ist, Beuys im Netz darzustellen.
Kommunikation war für Beuys der Schlüssel für gesellschaftliche Prozesse und das große Versprechen der Medien, die zu seiner Zeit nutzbar waren, Rundfunk, Fernsehen, Satellitenfernsehen und die Presse. Alle hat er selbst benutzt, um seine Ideen zu verbreiten. Zudem hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie sich diese Medien in der Zukunft verändern. Und er hat sehr vernetzt gedacht und immer wieder in Querverweisen gesprochen, um seine große Idee von der neuen Kunst zu positionieren und voranzubringen.
Er war sehr belesen in allen möglichen Wissenschaften, von der Philosophie bis zur Wirtschaftswissenschaft und brillant vernetzt. Man denke nur an seine Kontakte in die Politik, die internationale Kunstszene, die spirituellen Eliten und seine permanente Bereitschaft zum Diskurs. Im Grunde war er schon so etwas wie der Prototyp eines sozialen Netzwerks. Nur analog.
Anke
Vielen Dank für die spannenden Einblicke in deine Arbeit, Nina. An dieser Stelle verweise ich gerne auf das Gespräch am 23.1., das anläßlich des 30. Todestages von Joseph Beuys bei euch stattfinden wird. Mit den Aktionen #beuysheute und #beuysundich gab es ja bereits viel Input im Netz und der Diskussionsabend wird ebenfalls unter dem Hashtag #beuysheute mitzulesen sein. Über die Erfahrungen, die wir bei den im Netz angeregten Aktionen sammeln konnten, werde ich sicher an anderer Stelle noch einmal ein Fazit ziehen.
Sehr lesenswert – vielen Dank! 🙂
Freut mich!
[…] 15. Januar 2016sabine pint#beuysheute, Anke von Heyl, Aufgabe, Dialog, dialogisch, entfalten, Entfaltung, erweitert, Erweiterung, Gesellschaft, Idee, Ideen, Joseph Beuys, Künstler, Konzept, Kulturtussi, Kunst, Kunstbegriff, Kunstvermittlung, Kunstverständnis, Kunstwerk, Leben, lebendig, Mensch, Menschen, Museum, Museumspädagogik, Nina Schulze, Pädagogik, Projekt, Prozess, Schöpfer, schöpferisch, Schöpfung, Schloss Moyland, Selbstsentfaltung, Soziale Plastik, vermitteln, Vermittlung, Verständnis, verstehen Hinterlasse einen Kommentar Neues Jahr, neue Reihe. Meine Gespräche zur Kunstvermittlung […]
Interessante Aspekte! Vielen Dank!
Es macht mir viel Vergnügen, wenn es bei den Lesern ankommt 🙂
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