Seit gut einem Jahr bin ich mit INTERSTELLAR 2 2 7 verbandelt. Barbara Schachtner und Dorrit Bauerecker sind zwei großartige Musikerinnen, die ich bei den Kulturpaten kennengelernt habe. Und mit denen ich seitdem in regelmäßigem Austausch über Social Media stehe. Ich habe sie motiviert, sich in den sozialen Netzwerken mit ihrer Kunst zu zeigen. Und immer wieder haben wir über die Möglichkeit gesprochen, den analogen Bühnenraum mit dem digitalen Raum zu verbinden. INTERSTELLAR 2 2 7 arbeiten in ihren Performances mit der Verarbeitung von Fundstücken aus Kunst, Literatur, Musik und ganz vielen Versatzstücken aus dem Alltag. Damit entführen sie uns in fremde Galaxien. Wer die beiden einmal auf der Bühne erlebt hat, der fliegt ein Stück weit zu den Sternen und wird durch die künstlerischen Impulse Teil einer theatralen Supernova. Jetzt haben die beiden eine neue Produktion gestartet, in der sie auf Interaktion mit dem Publikum und den digitalen Raum setzen. Das ist für mich ein Anlass, mich noch einmal mit den genialen 95 Thesen der Kulturfritzen zu beschäftigen. (Ihr habt da etwas Großartiges in den digitalen Raum gestellt, das wirkt noch nach – auch wenn die Blogparade #theaterimnetz eigentlich beendet ist.)
Beitragsfoto: (C) André Symann
Interstellar 2 2 7
Seit ich die beiden kenne und ihre Auftritte verfolge, hat sich mein musikalischer Horizont extrem erweitert. Beide Musikerinnen sind Meisterinnen ihres Faches und schaffen mit ihren Instrumenten (Dorrit ist Tastenvirtuosin, Barbara eine wahre Stimmakrobatin) die spannende Transformation von Texten, Liedern, künstlerischen Zitaten, neuer und alter Musik und vielen Fundstücken in eine neue Wirklichkeit. Dort – zwischen zwei Fixsternen – entzündet sich die Supernova des künstlerischen Prozesses. Auf Instagram haben sie das Hashtag #bühnenliebschaft ersonnen. Und in diese Liebschaft beziehen sie nun den Betrachter mit ein.
Theater weiter denken
Das, was mir so unglaublich gut an den 95 Thesen der Kulturfritzen gefallen hat, ist die Tatsache, dass mit den Thesen die Grenzen des herkömmlichen Theaterbegriffs Stück für Stück ausgetestet wurden. Natürlich war da auch viel Ironie mit im Spiel. Aber genau das, das Spielerische ist ein Schlüssel im Umgang mit dem Kulturbegriff generell. Ich verstehe das Spiel vor allem auch im Sinne von Experiment. Und wir müssen Experimente wagen, um uns im digitalen Raum zu orientieren. Nur durch sie können wir hier Sicherheit erlangen. Denn wir haben den Raum längst noch nicht in Gänze erforscht. Es gibt – vor allem was die Kultur betrifft – noch extrem viel weiße Flecken.
Deswegen bin ich INTERSTELLAR 2 2 7 dankbar, dass sie sich darauf eingelassen haben, diese Experimente zu wagen. In ihrer neuesten Produktion INTERSTELLAGE I – IV gehen sie ein Stück tiefer in den digitalen Raum hinein. Sie rufen euch auf, ihnen via Social Media eure Schnipsel von Wirklichkeit zu schicken. Und zwar genau die, die ihr um 2.27 pm macht. Egal, wo ihr seid. Wenn ihr das dann unter #at227pm in die sozialen Netzwerke entlasst, spinnt INTERSTELLAR 2 2 7 das weiter zu Kunst. Eine Aktion für die Adventssonntage. Mir würde es sehr gefallen, wenn das dann auch wieder auf die analoge Bühnen käme!
Thesenanschlag
Ich möchte hier – auch um den Sinn solcher Aktionen herauszustellen – einige Thesen der Kulturfritzen kommentieren. Jede einzelne wäre ein eigenes Brainstorming wert. Und ich kann (eventuell mitlesenden) Theatermachern nur empfehlen, sich die Thesen mal mit ordentlich Zeit zum Nachdenken vorzunehmen. Die Impulse, die sie geben, kann man wunderbar aufnehmen und sie als Prüfsteine für die eigene Arbeit nutzen.
These 20
Theater-Tinder bringt mobile Produktionen ins Schlafzimmer – bei gegenseitigem Gefallen ist die Performance gratis.
Auch wenn dieses Tinder für mich einen negativen Beigeschmack hat (Menschen aussortieren – irgendwie fies), so kann man vielleicht doch diesen Moment des „gegenseiten Gefallens“ für die Annäherung an Kultur herausgreifen. Ich finde es total wichtig, dass man diese symmetrische Kommunikation auch für die Kultur in Anspruch nimmt. Und sich auf die unterschiedlichen Perspektiven einlässt. Spannend finde ich den Gedanken, dass sich auch das Theater sein Publikum aussuchen darf! Hier kann man mal in Richtung Community-Building drauf rumdenken.
These 41
Es gibt 4 große Social-Media-Plattformen: Facebook, Twitter, Instagram und Theater.
Social-Media-Plattformen zeichnen sich vor allem durch das Mitmachen aus. Eigene Beiträge liefern, andere Beiträge kommentieren. Tja, auch Daumen hoch und Daumen runter. Wobei, da hat sich ja seit Jahrhunderten der Applaus schon etabliert. Interessant bleibt es tatsächlich bei der Frage, wie das Theater mit User-generated-Content umgehen kann. Marc hatte das ja mit der Männerspielerin schon einmal kongenial umgesetzt.
Unlängst habe ich die App OperaGuru (ich verlinke hier mal Christians ausführlichen und guten Bericht dazu) in der Oper Wuppertal getestet. Die Idee, die Übertitel via App zuzufüttern, kleine Behind-the-Scenes-Schnipsel an passender Stelle einzubauen – mein Theater-Erlebnis hat sich definitiv erweitert. Ich für meinen Teil liebe es, meine Erfahrungen auch an meine Follower weiterzureichen. Der große Knaller wäre es, wenn man tatsächlich mit den Darstellern Kontakt aufnehmen könnte. Dieses Erlebnis hatte ich schon einmal. Das war während des Beethovenfestes, als die Sopranistin Mojca Erdmann in der Pause auf unsere Tweets reagierte. Die Begeisterung im Publikum war groß!!
These 67
Die Instagram-Ästhetik erobert den Bühnenraum – der Guckkasten wird quadratisch.
Nein!!! War nur Spaß!!! Ich sehe schon sämtliche Theatermenschen voller Schmerz zusammenzucken. Aber: wenn man als Theater Aufmerksamkeit via Instagram erreichen möchte, dann sollte man sich dort genauer umsehen. Man muss nicht unbedingt jedem ästhetischen Trend nachspringen. Ich mag es ja auch sehr, wenn mal jemand neue Trends entwickelt. Manchmal setzt sich dort zu sehr der Influencer-Stil durch und es erscheinen einem alle Bilder gleich. Da ist es dann eine Wohltat, wenn jemand mit einer neuen Idee kommt. Aber man sollte sehr genau schauen, was genau in diesem kleinen Format funktioniert. Frau Vogel hat da übrigens schon einmal etwas Substantielles dazu geschrieben, wie Theater mit Instagram umgehen könnten.
These 78
Theater entdecken das Netz als Bühne.
Ja, bitte! Ich glaube, es ist schon sehr oft auf Effi Briest hingewiesen worden. Dieses Experiment des Gorki Theaters war ein Versuch, ein Stück auf Facebook zu inszenieren. Mit Darsteller-Accounts, die miteinander interagierten. Das war 2012. Hier kann man sich einen Mitschnitt ansehen. Ich meine, im letzten Jahr hat es auch ein paar Social Media Stücke zu Shakespeare gegeben. Leider finde ich das jetzt nicht mehr. Das war – soweit ich mich erinnere – auf Instagram. Falls jemand einen Hinweis dazu hat, freue ich mich. Wie dem auch sei. Der Weg vom Netz auf die Bühne scheint einfacher. Aber das Netz für Inszenierungen zu nutzen, da muss noch viel geprobt werden.
These 81
Theater kommen übers Netz miteinander ins Gespräch.
Die Quintessenz allen Kulturschaffens. Von Menschen. Für Menschen. Und nur durch Austausch von Erfahrungen kann es weitergehen. Ich plädiere hier an dieser Stelle noch einmal dafür: vernetzt euch! Und nutzt die Chance, dies unabhängig über Zeit und Raum hinweg zu tun. Bildet Banden. Und schafft neue Ressourcen. Geht neue Wege.
These 94
Wissenschaftler untersuchen Auswirkungen der Digitalisierung auf die mentalen Realitäten der Theatermacher.
Well. Wobei ich es gut finden würde, wenn es mal ein Gegenargument zum ewigen „das Digitale vereinsamt, das Digitale macht dumm usw.“ geben dürfte. Oft wird ja schon mit einer bestimmten Prämisse an solche Untersuchungen herangegangen. Noch spannender fände ich es, wenn die mentalen Realitäten des Publikums untersucht würden. Aber es darf gerne mehr Futter von allen Seiten für den Diskurs geben. Und dann treffen wir uns alle und schauen, was wir daraus machen.
Überhaupt ist für mich eine Dialektik von Praxis und Analyse von großer Bedeutung, wenn man mal einen Schritt weiterkommen möchte. Um sich auch über Qualitäten unterhalten zu können, braucht es mehr Praxis. Vor allem unterschiedliche Ansätze.
Ich bin schon super gespannt, was wir alles bei #at227pm zu sehen bekommen. Und ich bin neugierig, wie es mit dem Theater im Netz weitergehen wird. Es bleibt aufregend!